MABON VAB GENOVEVA
1. Verschiedene in der bruchstückhaften
Überlieferung verstreute Elemente verweisen auf einen Motivzusammenhang, in
welchem einer Mutter ihr Kind genommen und isoliert aufgezogen wird. Hände
entführen Rhiannons neugeborenen Sohn, Mabon wird von Modron weggenommen,
Aoife
sorgt dafür, dass die Kinder von Lyr verschwinden und allein heranwachsen,
Gwydion nimmt Leu Law Gyffes von Arianrod weg und zieht ihn auf. In der
irischen Tradition ist von Kindern des weißen Hundes die Rede, Cormac wurde
als Kind von einer Wölfin geraubt. Schließlich sind die verbreiteten
Wechselbalggeschichten, in denen ja einer Mutter das Kind weggenommen und durch
einen hässlichen Elfen ausgetauscht wird, hier einzuordnen.
Lässt all dies sich als Echo der
Foster-father-Sitte verstehen (welche wiederum ein fernes Echo des Matriarchats
ist, wo Kinder in den Haushalt des Mutterbruders eingehen), so gibt es auch
weiterführende Hinweise auf ein isoliertes Aufwachsen des Kindes: Balor will
eine Tochter isoliert aufziehen lassen, Deirdre soll in Isolierung aufwachsen,
die Kinder von Lyr wachsen (als Schwäne) allein auf, Mabon ist vom dritten
Lebenstag an in Gefangenschaft (wie Balors Tochter in einem Turm). Rapunzel mag
als Beispiel für eine außerkeltische (?) Überlieferung dieses Motivs dienen.
An dieser Stelle schließen sich also die
Elemente von Gefangenschaft an: Mabon vap Modron war wie gesagt vom dritten Tag
an gefangen, bis er als erwachsener Mann befreit wurde; Geir Sohn der Rigantona
war Gefangener in Oeth und Anoeth. Er verbindet somit Pryderi (Sohn der Rhiannon)
und erwachsenen Gefangene; Bran, Caratacus und Manawydan waren mehrere Jahre in
Gefangenschaft.
Es lässt sich daraus zurückschließen auf
ein Motiv, in welchem einer Mutter bei der Geburt oder in den ersten Jahren ein
Kind entführt und getrennt von ihr gefangen gehalten wird. Kennzeichnendes
Element ist häufig die Mutter-Kind-Beziehung (Rhiannon-Pryderi, Rigantona-Geir,
Aoife-Lyrs Kinder, Arianrod-Leu Law Gyffes,
Wechselbalggeschichten.- Nicht so bei Balor, Cormac, Deirdre).
2. Es existiert ein Sagenzusammenhang, der
unter dem Namen von Genoveva weit über Europa, zumindest in
romanisch-sprachigen Ländern verbreitet ist. Der Name Genoveva, durchaus als
keltisch anzusehen, wurde allerdings erst später damit in Verbindung gebracht.
Als frühe Form wird eine bretonische Legende angeführt, in welcher die Mutter
(die spätere Genoveva) Azenor heißt, ihr Sohn Golo. In den späteren Sagenformen
wird der Name Golo auf die negative männliche Gestalt übertragen. Für die
deutschen Fassungen ist charakteristisch: Der heuchlerische Golo verfolgt die
züchtige Genoveva, während ihr Gemahl im Krieg ist. Da sie sich ihm
verweigert, schlägt Golos Liebe in Hass um, und weil er die Macht des
Stellvertreters hat, bringt er Genoveva in Verruf und lässt sie umbringen.
Durch die Treue des Henkersknechts überlebt Genoveva jedoch und verbirgt sich
in der Wildnis. Dorthin nimmt sie ihren neugeborenen Sohn mit. Er wächst
isoliert von anderen Menschen auf, allein mit seiner Mutter und betreut von
einer Hirschkuh. An dem Motiv der Hirschkuh, das ja im Keltischen eine große
Bedeutung hat, ist bemerkenswert, dass es in der Genoveva-Geschichte ansonsten
völlig funktionslos, also wohl Überrest eines früheren, nunmehr
unverstandenen Motivs ist. Nicht allein die Hirschkuh, alle Tiere des Waldes
kommen freudig zu Genovevas Sohn. Deuten wir dieses Erzählzug als "Herrn
der Tiere", so haben wir damit neben der Hirschkuh und den Namen Genoveva
und Golo ein weiteres keltisches Element.
Die Geschichte als ganze weist große
Ähnlichkeit mit den Mabon/Modron-Motiven auf. Der Name Genoveva soll von der
Pariser Heiligen Geneviève übernommen sein, doch gibt es außer der
Tugendhaftigkeit keine weitere Übereinstimmung zwischen beiden. Hier wird nun
angenommen, dass Genoveva ein alter keltischer (gallischer) Name für diese
Muttergestalt ist.
Genoveva nennt ihren in der Verbannung
aufwachsenden Sohn Schmerzensreich - eine unmittelbare Übersetzung von Pryderi,
wenn pryder im Kymrischen Kummer bedeutet. Pryderi kann auch eine andere Form
von Peredur sein, der sonst auch Perceval heißt. In der
Peredur-Parcival-Geschichte von Wolfram v. Eschenbach nun heißt die Mutter
Herzeloyde( = Herzeleid = Schmerzenreich).
Die Genoveva-Elemente und die Mabon vap
Modron-Elemente zusammen können verschiedene Fassungen eines alten keltischen
oder proto-keltischen Stoffes sein, der die Geschichte von der Entführung eines
Kindes erzählt, dem die leidende Mutter nachfolgt.
3. Einen Hinweis auf die mögliche Bedeutung
diese Stoffes liefert die zoologische Ethologie: Bei der Leierantilope
Damaliscus (?) ist es üblich, dass männliche Tiere einem Muttertier ihr noch
milchabhängiges Kalb entjagen und auf ihr eigenes Territorium treiben. Damit
zwingen sie das Muttertier, dorthin zu folgen und somit in den Besitzraum des
männlichen Räubers überzugehen. Bei aller Abneigung, die der Autor dieser
Zeilen gegen Übertragungen aus dem Tierverhalten in menschliches Handeln hat,
ist doch zu überlegen: Kann nicht eine ähnliche Sitte - nicht als tierisches
Erbe, denn die die Antilopen sind allzu weit von uns entfernt, sondern als
analoge Erscheinung - in alteuropäischen Zeiten zu der Entstehung der Sage von
den entführten Kindern geführt haben? Als man dann die Zusammenhänge nicht
mehr kannte und verstand, da entstanden daraus wie in vielen vergleichbaren
Fällen verschiedene eigene Geschichten.
4. Wem das zu gewagt erscheint, der sei darauf
hingewiesen, dass der Kindesmord, den der neue Ehemann an den Kindern seiner
neuen Frau aus deren erster Ehe nach der Heirat begeht und von dem Apollonios
Rhodios aus der griechischen Mythologie berichtet,
seine mindestens
zwanzig Parallelen bei Affen, Löwen und Vögeln hat. Männliche Tiere, die
einen Rivalen getötet haben und dessen Weibchen übernehmen, töten sofort alle
Nachkommen ihres früheren Rivalen.