Thesen zur Rekonstruktion der keltischen Glaubensvorstellungen 11
Theses on celtic religion   webmaster@gruenverlag.de    Thèses sur la religion des celtes

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Für einen normalen Kelten, besser vielleicht: einen durchschnittlichen Bewohner des vorchristlichen, vorrömischen eisenzeitlichen Mittel- und Westeuropa stellte sich die Welt vielleicht in folgender Weise selbstverständlich dar:

Das Leben war sehr stark bestimmt vom Wechsel der Jahreszeiten und den damit verbundenen Abläufen, Änderungen und Wiederholungen in der Natur, in Wald, Feld und Garten und in den darauf bezogenen menschlichen Tätigkeiten. Tag und Nacht, Dunkle und helle Jahreszeit, Wachstum, Ernte und Brache, Wandel der Gestirne und die Festtage an den Eckpunkten dieser Zyklen gaben den äußeren Rahmen, sie setzten die Bedingungen für das menschliche Handeln.

In diese Welt hinein oder auch durch sie hindurch wirkten zahlreiche Kräfte und Mächte. Sie kamen überwiegend aus einer anderen Welt, welche diese irdische Welt umgab und durchdrang, einer Welt, die alles Unbekannte und Geheimnisvolle, aber auch alles Bestimmende und Entscheidende enthielt. Dort und von dort aus wirkten übermenschliche Wesen; einige von ihnen waren das Land, in dem man lebte, und die Ahnen der Familien, des Volkes und der Menschen überhaupt. Andere waren den Menschen erkennbar als Sonne, als Wasser in allen seinen Erscheinungsformen, als Bäume, als Tiere. Die verschiedensten Gestalten vermochten sie anzunehmen, fremde, ungeheure, aber sie konnten wiederum auch in die Gestalt von vertrauten Tieren oder sogar Menschen schlüpfen. Vor allem als Tiere erschienen sie auf der Erde, manche von ihnen auch in der Gestalt von Magie-kundigen Menschen. Sie brachten Heil und Unheil, steuerten Kriege und Segen.

Von der undurchschaubaren Regelhaftigkeit der Anderen Welt wurde auch diese irdische Welt bestimmt, so zuverlässig, daß überlegenere Menschen diese Regeln lernen konnten und als Weise oder Druiden den anderen Menschen deutend zur Seite standen. So gab es bestimmte Zeichen, die von der Anderen Welt ausgingen und gelesen und befolgt werden konnten, es gab gute und schlechte Tage und eine Fülle von Regeln, wie man sich bei Kenntnis dieser Regeln zu verhalten hatte.

Gewisse Stellen in der Welt dienten den Bewohnern der Anderen Welt zum Überwechseln in die irdische Welt zu und bestimmten Zeiten, nämlich an den Eckpunkten zwischen der dunklen und der hellen Jahreszeit, geschah dies besonders leicht,.

Für die irdischen Menschen führte auch ein Weg in die Andere Welt, das war der Tod. Kam der Mensch durch die Erde oder durch Wasser, durch Feuer oder durch Luft in die Andere Welt, so konnte er damit rechnen, dort weiterzuleben. Da nun die anderweltlichen Wesen in der Lage waren, in diese Welt herüberzuwechseln, konnte man nie sicher sein, daß nicht ein Verstorbener wiederkehrte. Oft genug geschah das auch, sei es, daß der Verstorbene kam, um noch eine Angelegenheit zu erledigen, sei es, daß er kam, um den nächsten Sterbenden mit dem Wagen abzuholen, sei es aus anderen Gründen. Man konnte eine Wiederkehr verhindern, wenn man dem Toten den Kopf vom Leib trennte und dafür sorgte, daß die beiden Teile nicht wieder zusammengelangten.

Trennte man den Kopf vom Rumpf, bevor der Mensch gestorben war, so mußte man damit rechnen, daß der Kopf allein am Leben blieb. Das war aber nicht oft der Fall und blieb stets ein berichtenswertes Ereignis. Im Kopf steckte das Leben, genauer im Blut, das vom Kopf zum Herzen lieb und den Menschen am Leben erhielt.

Man erzählte sich auch von einigen Menschen, die noch vor dem Sterben in andere Menschen oder Tiere übergingen und ein neues Leben begannen, manche sogar mehrmals. Freilich war das nicht das Übliche und man mochte bezweifeln, daß es sich um Menschen handelte und nicht viel eher um anderweltliche Wesen.

Überhaupt wurden – meist von den Druiden – unglaubliche viele und viele unglaubliche Geschichten erzählt, aus denen man erkennen konnte, was sich in der Anderen Welt und unter ihrem Einfluß in dieser Welt abspielte.

Führt der Tod in die Andere Welt, so kommt das Leben wieder aus ihr hervor. Alles, was mit Erzeugung von Neuem, mit Wachsen und mit Fülle zu tun hatte, aber auch das schwellende Wasser der Flüsse oder der Seen, das Land, das dem Volk die Nahrung bot und auch die spendende, überfließende Sonne – all dies stand in der Macht von anderweltlichen Wesen, die den Menschen als Frauen vorstellbar waren oder gegenüber traten, als Mütter, Herrscherinnen, oder als grausige Alte Viele der Ahnen, die das Volk ins Land geführt hatten oder die die Herrschaft begründet hatten, waren solche anderweltlichen Mütter. Sie hatten eine eigene Vorliebe für die Menschen.

 

 

04.07.01   mailto:gruen@gruenverlag.de